Was an ihren Bildern auf den ersten Blick auffällt, ist deren ungewöhnlich dichte, feine, vielfältige Struktur. Mit einem Gewebe möchte man sie vergleichen, mit etwas Textilem, einem Netz aus eng miteinander verwobenen Fäden. Dieser Eindruck kommt nicht von ungefähr, denn die 1963 in Koblenz geborene Eva Maria Enders studierte tatsächlich zunächst einmal Textilgestaltung an der Fachhochschule Niederrhein in Mönchengladbach. Nicht allerdings, ohne von vornherein das eigentlich anvisierte Ziel, die Kunst, stets im Hinterkopf zu haben. Berühmte schlugen vor ihr eine ähnliche, über den Umweg Textilgestaltung führende Laufbahn vor, beispielsweise Georges Braque oder K. 0. Götz, bei dem sie später — auch hier scheinen die Fäden, nun die des Lebens, eng miteinander verwoben! — ihre Diplomarbeit über den Tachismus und das Informel schreiben sollte.
Struktur, Stofflichkeit waren der Künstlerin von Beginn an also nichts Fremdes, sondern etwas Vertrautes, gar Ureigenes. Schon als Kind habe sie, erinnert sich die Enders lachend, stets sehr „dichte“ Bilder gemalt. Selten habe sie sich damit begnügt, nur eine Figur, nur ein Motiv zu Papier zu bringen, habe vielmehr schon damals solange Figuren und Motive gemalt und über- einandergeschichtet, bis man kaum noch das eine vom anderen habe trennen können. Daran hat sich prinzipiell wenig geändert; auch heute noch baut Eva Maria Enders ihre Bilder auf diese Art und Weise aus Schichten auf, übermalt bereits Geschaffenes immer wieder, trägt immer wieder Lagen neuer Farbe mit dem Pinsel oder dem Spachtel auf, schwemmt sie auf. Dispersionsfarben sind dabei das dominierende, rasches Arbeiten erlaubende, ja verlangende Material, kombiniert häufig mit Temperafarben und Farbpigmente, die in unterschiedlich starken Konzentrationen angerührt werden. Farbschichten unterschiedlichster Dicke überlagern in den Bildern der Enders einander, Farbschichten, die alles Vorige regelrecht überdecken oder nur mit einem zarten, lasierenden Hauch überziehen können. Allein schon dieses übereinanderschichten, übereinanderlagern, bei dem sich die Farben geradezu miteinander verflechten und verzahnen, bewirkt eine ungewöhnliche Dichte und Stofflichkeit der Arbeiten.
Zu der Farbe kommt die Form, kommen die Spuren, die Muster, die die Enders mit dem Rakel in die Farbschichten hineinkratzt, herausschabt, auch dabei bemüht, das Fließende, wie es der Bewegung der Hand beim Malen, beim Schreiben eigen ist, wie es der ‘écriture automatique“ des Informel entspricht, nicht zu unterbrechen. Wohl zu stören, aber diese Störung hat nichts Zerstörerisches, ist stattdessen die Bedingung für weiteres Voranschreiten, für neues Schaffen, für neuerliche Schwünge von Farbe, die sich rund, organisch über die „Wunden‘, die Kratz- und Schabspuren des Rakels, legen. Aber nicht sie allein sorgen für die Strukturierung der Farbschichten; Abdrücke, Eindrücke verschiedenartigster Materialien spielen in vielen Arbeiten mit, dem Bemühen der Künstlerin entsprechend, ein möglichst vielfältiges Gewebe zu schaffen, in dem nicht mehr die einzelne Struktur wichtig ist, sondern die Gesamtwirkung.
Einsinnig, eindeutig können solchermaßen geschaffene Bilder nie sein, keine Arbeiten, die sich anbiedern, ins Auge springen, sich auf den ersten Blick hin vollkommen offenbaren. Im Gegenteil: nichts ist hier eindeutig, nichts lässt sich wirklich als das festhalten, das es zunächst zu sein schien. Statt Eindeutigkeit gibt es kontinuierliche Pendelbewegungen, fortwährende Aufladungen zwischen unterschiedlichsten Polen. Das Runde und das Gerade, das Organische und das Anorganische, das Malerische und das Zeichnerische bzw. Kalligraphische, das Schwelgen in Farbe und die Geizigkeit im Umgang mit ihr, das Pastose und das Transparente, das Reliefartige und das Hauchzarte — das alles sind nur etliche der Pole, zwischen denen diese Aufladung stattfindet, sind „Fäden“, die zu der komplexen Stofflichkeit dieser Bilder entscheidend beitragen.
Der Betrachter, dessen Blicke sich in diesem aus Form und Farbe gewebten labyrinthischen Netz verfangen, muss seine eigene Ariadne sein, muss sich selber den Faden spinnen, erarbeiten, anhand dessen er aus diesem Netz wieder herausfindet. Er kann es nur, so widersprüchlich das klingen mag, wenn er sich ohne Vorbehalte darin versenkt. So, wie es die Künstlerin beim Schaffensprozess selber tut, während dieses Prozesses gleichzeitig Lenkende und Gelenkte, bewusst Planende und spontan Reagierende, stets aber auf der Suche nach dem, was sich unter der Oberfläche des Sichtbaren verbirgt, was stärker zu erfühlen, zu erahnen als wirklich zu sehen ist. Lässt man sich so unvoreingenommen auf die Bilder ein, wird schnell deutlich, dass ihr engmaschiges Gewebe aus Licht und Schatten, Bewegung und Ruhe, Rhythmus und Stillstand nur ein vermeintliches Labyrinth ist, dass es vielmehr beherrscht wird von immanenten Ordnungen und Gesetzen. Dann zeigt sich, dass jedes dieser Bilder seine eigene, charakteristische Struktur besitzt, die weder als eindeutig abstrakt noch als eindeutig konkret zu definieren ist. Mögliche sich dem Betrachter aufdrängende assoziative Bezüge sind nicht zufällig, sondern beabsichtigt. So kann, darf und soll er sich beispielsweise an natürliche Strukturen erinnert fühlen, an die Maserungen von Holz etwa, an das feine Gespinst von Adern, an die für jedes Individuum eigentümliche Zeichnung der Linien einer Hand, an das harmonische Muster, das Wind und Wellen in den Sand eines Fluss- oder Meeresufers formen, die Reflexe des Lichts auf einer Wasserfläche. „Von der Natur gegebene interessante und vielgestaltige Strukturen dienen mir als Formfindung und geben Impulse,“ konstatiert Eva Maria Enders selber.
Aber es sind eben nicht nur die natürlichen Strukturen, die als Impuls dienen können — von einer direkten Widergabe kann ohnehin nie die Rede sein! —‚ nicht weniger denkbar sind als solche Impulsgeber z. B. wirkliche textile Gewebe oder Steine. Die sich gerade aus der Verbindung unterschiedlichster Einflüsse und Materialien ergebende, verwirrend vielschichtige Stofflichkeit trägt entscheidend zum Reiz dieser Bilder bei. Kaum weniger gilt dies für die Antagonismen, die schon während des Schaffensprozesses funkenschlagend aufeinanderprallen, das Bewusste und Unbewusste, das Emotionale und Rationale, Spontane und überlegte. In einem Moment die Bestimmende, kann die Künstlerin im anderen schon die vom Material, vom bis dahin Geschaffenen bestimmte sein. Improvisation und Kalkulation gehen eine so innige Symbiose ein, dass man kaum unterscheiden kann, was Ergebnis des einen oder des anderen ist. Erst recht nicht in den neueren und neuesten Arbeiten der Eva Maria Enders. In ihnen wird ein weiterer, die Dynamik der Bilder noch steigernder Faktor wirksam. Zu dem eher Kleinteiligen, Minimalistischen der Struktur gesellt sich nun als offenbarster Kontrast eine überraschend großzügige Flächigkeit. Der akribisch, Schicht um Schicht ausgearbeiteten Binnenstruktur werden jetzt ungewohnt große, die Bildfläche gliedernde, teilende, akzentuierende Farbblöcke“ gegenübergestellt. Umso auffälliger, als die Enders für ihre Gestaltung sehr klare Farben bevorzugt. Schwarz, Weiß und Blau; Schwarz, Weiß und Rot sind die auffälligsten, immer wiederkehrenden Dreiklänge, wobei vor allem letzterer, wie die Künstlerin zugesteht, nicht ganz unbeeinflusst ist durch die Auseinandersetzung mit der chinesischen Kunst während eines früheren China-Aufenthalts, die möglicherweise auch für die Verstärkung des zumindest latent schon immer vorhandenen kalligraphischen Elements (mit)verant- wortlich ist.
Aber Eva Maria Enders wäre nicht sie selber, wenn es wirklich bei dieser Teilung des Bildes durch die Farbe bliebe, und so wird denn immer wieder dasjenige, was durch die Farbe getrennt schien, durch die Form, sprich: die Struktur, wieder zusammengebracht. Das Malerische und das Zeichnerische, Kalligraphische sind nun einmal die zwei Seelen in der Brust der Eva Maria Enders, die in ständigem kreativem Kampf miteinander ringen. Zwei Seelen, die erst dann Frieden schließen, wenn aus Eindeutigem Vielschichtiges geworden ist, wenn Bildgewebe von einer Stofflichkeit entstanden sind, in denen der einzelne Faden untrennbarer Teil des Ganzen ist.
Selbst dann ist der Kampf der beiden Seelen nur vorläufig beendet, birgt doch die das gerade vollendete Bild schon den Keim des Nächsten in sich, begonnen oft als Variation des Vorhergehenden. Das verleiht auch dem gesamten Schaffen der Eva Maria Enders eine dem einzelnen Bild ähnliche Komplexität.