Über weiße Flecken, Flächen und Linien im neuen Werkzyklus von Eva Maria Enders
Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein waren auf alten Landkarten, große Partien des Landesinneren als weite, unbezeichnete weiße Flecken angelegt. Es handelte sich dabei um jene oft riesigen Areale, die bis dato von keinen Entdeckerfü.e betreten und folglich auch keinen Kartographen erfasst wurden. Solche Gebiete wurden durch Leerstellen als terra incognita gekennzeichnet. Die später umgangssprachlich vereinnahmte Metapher vom „weißen Fleck“ entstand in diesem Kontext ursprünglich für das Unbekannte schlechthin. Auf manchen Kartenwerken zum afrikanischen Kontinent findet sich gelegentlich – in den großen, weißen Fleck im Landesinneren einbeschrieben – der Hinweis „Hic sunt leones“, also sinngemäß „Hier gibt es Löwen“. Natürlich ist diese Anmerkung nicht als zoologische Angabe zum Verbreitungsgebiet einer bestimmten Spezies zu verstehen. „Hic sunt leones“ subsumiert vielmehr das Fremde und Unentdeckte.
Das ‚Netzwerk in Weiß‘, eine Terra Incognita als das Unentdeckte oder das Fremde, kann Verheißung und Bedrohung zugleich evozieren. Welche Bedeutung hat nun diese über den malerischen Bilder-Reliefs schwebende Bildebene ein ‚Netzwerk in Weiß‘ im neuen Werkzyklus von Eva Maria Enders?
Die neue Werkgruppe ‚Arrondi, Parallelwelten und Exoplaneten‘ der Künstlerin erscheint als eine in nachvollziehbaren Schritten allmählich gestaltete Weltaneignung. Geographische Erkundungen in stimmungsevozierenden Farbnuancen werden zum Ausdruck gebracht. Eine makroskopisch positivistische Weltsicht offenbart sich.
Über den farbigen Bilder-Reliefs ragen weiße Flecken, Flächen und Linien heraus. Die relief-artig gestalteten Bildebenen der ‚Arrondi, Parallelwelten und Exoplaneten‘ resultieren aus den wechselnden Arbeitsprozessen – Malen, Relief-schichten, Schleifen und wieder fortlaufend Übermalen, Schichten, erneutes Glatt-Schleifen. Die finalen Bildwelten sind die künstlerischen Erkundungen eines vorausgegangenen Arbeitsprozesses, der sich aus vielen Einzel-Schritten aufbaut. Der Aufbau des dabei sich stetig verändernde Schichtungsverlauf führt zu einer dramatisierenden Steigerung des künstlerischen Wollens.
Die Erhöhungen erscheinen einheitlich glattgeschliffen. Weiße Flecken, Flächen und Linien erheben sich gleichbleibend, beindruckend und Achtung gebietend über alle in der Tiefe des Reliefs sich befindenden Strukturen. Diese besonders augenscheinlich-offenbare Bildebene lässt in ihrer Befindlichkeit einer Andeutung ein kohärentes ‚Netzwerk in Weiß‘ erahnen, das über dem drei-dimensionalen, malerischen Relief leicht zu schweben scheint. In ihrer weißen Zeichenhaftigkeit empfinden diese amorphen und vegetabilischen Beschaffenheiten Naturformen nach. Das prozesshaft glatt eingeschliffene ‚Netzwerk in Weiß‘ evoziert den Begriff der Atmosphäre.
Eine makroskopische Sichtweise auf die ‚Arrondi, Parallelwelten und Exoplaneten‘ verweist zunächst unmittelbar auf die Erdatmosphäre – die Lufthülle der Erde, wie sie in 300-400 km Höhe allmählich in den Weltraum übergeht, jedoch ihr Gemisch aus den unterschiedlichsten Gasen und gasförmigen Elementen von der Schwerkraft der Erde festgehalten werden. Die objektive Eigenschaft der Umgebung -Erde und Erdatmosphäre-, die sich nicht allein auf einen einzelnen Gegenstand zurückführen lässt, sondern auf die Art der Zusammenstellung dieser Umgebung, werden zunächst in den künstlerischen Erkundungen und Arbeitsprozessen der neuen Werkgruppe ‚Arrondi, Parallelwelten und Exoplaneten‘ von Eva Maria Enders evoziert.
Das ‚Netzwerk in Weiß‘ – die Achtung gebietenden weißen Flecken, Flächen und Linienverursacht beim Betrachter ein subtiles Spüren von Bewegungsräumen. Diese Rezeptions-Dynamik weist auf die subjektive, innere Geisteshaltung der Künstlerin hin – ihrem künstlerischen Wollen und Ästhetik als Stimmung oder Aura. Hier wird Atmosphäre als phänomenologischen Begriff und gleichzeitig als Schlüsselkonzept der neuen Werkgruppe von Eva Maria Enders etabliert.
Im Spüren von Atmosphären werden metaphorisch gesprochen Bewusstseinsfärbungen beim Betrachter sichtbar. Emotionen und Stimmungen werden als eine eigenständige Kognitionsart wahrnehmbar und signalisieren mögliche zukünftige Befindlichkeiten. In diesem Bild-Kontinuum entsteht entsprechend dem Bild-Verständnis von Eva Maria Enders das Erleben von Atmosphären als Vermittlungsebene zwischen dualistisch gefassten Subjekten und Objekten in einer statischen, sich jedoch ständig fortschreitenden und vergänglichen Gegenwart.
Bezogen auf die positivistische Weltsicht und Zeitlichkeit des in nachvollziehbaren Einzel-Schritten gestalteten Aufbaus der ‚Arrondi, Parallelwelten und Exoplaneten‘ mögen die Werke der Künstlerin die Kraft haben, ein Gespür für projizierte Situationsverläufe und mögliche zukünftige Interaktionen zwischen konkreten Situationen und potentiellen Zukünften des dynamischen Bild-Welt-Verhältnisses zu vermitteln.
Zum Autor Rolf Kluenter (Kurzfassung):
Rolf A. Kluenter wurde in Bürvenich bei Köln geboren, ist ein freischaffender Künstler, Kurator, Autor und Filmemacher und unterhält Ateliers in Shanghai, Kathmandu und der Eifel.
Kluenter lehrte er am Campus of Fine Arts der Tribhuvan University in Kathmandu (1988-1996), an der Shanghai Theatre Academy School of Creative Studies (2013-2018) und an der School of Art, Tai Hu University of Wuxi, China (2017-2019). Von 2007 bis 2010 war er berufenes Beratungsmitglied der Advisory Board, Beijing Cultural Development Foundation, China. Seit 2022 ist Kluenter als Projekt-Koordinator bei der EUGEBAU tätig und koordiniert Kunst, Denkmalschutz, innovative Technologien in dem Projekt „Alter Schlachthof – Wasserstoffquartier“, Euskirchen. Seit 2024 ist Kluenter berufenes Mitglied der Shanghai Artists Association.
Seine Werke und Filme werden international in Galerien und Museen gezeigt und befinden sich in privaten wie öffentlichen Sammlung in Asien, Europa, den USA, Canada und Brasilien.